Tonischer Labyrinthreflex beim Kind –
wenn Frühkindliche Reflexe zur Herausforderung werden
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Liebe Mama und lieber Papa,
Dein Kind ist oft unbeholfen beim Laufen, vermeidet Sport oder klagt über Übelkeit im Auto? Vielleicht fällt Dir auch eine eher „zusammengesackte“ Körperhaltung auf oder es hat Schwierigkeiten, Entfernungen und Richtungen einzuschätzen?
Hinter diesen Beobachtungen könnte ein noch aktiver tonischer Labyrinthreflex (TLR) stecken, ein Frühkindlicher Reflex, der für die erste Lebensphase wichtig ist, aber später gehemmt sein sollte. Wenn das nicht geschieht, kann er viele Alltagsbereiche Deines Kindes beeinflussen: vom Gleichgewicht über die visuelle Wahrnehmung bis hin zur Konzentrationsfähigkeit.
Was ist der tonische Labyrinthreflex (TLR)?
Der tonische Labyrinthreflex ist ein sogenannter Frühkindlicher Urreflex, der sich bereits im Mutterleib etwa ab der zwölften Schwangerschaftswoche entwickelt. Er zeigt sich in zwei Richtungen:
- TLR vorwärts: Das Baby nimmt eine typische Beugehaltung ein (Fötusstellung).
- TLR rückwärts: Eine Streckreaktion, die mit dem Beginn der Geburt aktiviert wird, wenn der Kopf des Babys sich nach hinten neigt, um durch den Geburtskanal zu gelangen.
Diese Reflexe helfen dem Neugeborenen, auf die neue Herausforderung der Schwerkraft zu reagieren. Nach der Geburt sollte der TLR vorwärts bis zum 4. Lebensmonat, der TLR rückwärts bis spätestens zum 3. bis 4. Lebensjahr gehemmt sein. Andernfalls bleibt das Zusammenspiel von Kopfbewegung, Muskelspannung, visueller Wahrnehmung und Gleichgewicht gestört.
Was passiert, wenn der TLR aktiv bleibt?
Dann bleibt das Zusammenspiel von Kopfbewegung, Muskelspannung, Gleichgewicht und visueller Orientierung gestört. Denn der TLR beeinflusst:
- die Kopfkontrolle,
- das Gleichgewicht,
- die Haltung,
- das Sehen und die Raumwahrnehmung,
- und sogar das emotionale Sicherheitsgefühl.
Die Auswirkungen sind oft subtil und werden deswegen lange nicht erkannt. Viele Kinder arrangieren sich unbewusst mit ihrem Körper und wissen gar nicht, dass ihr Empfinden von Raum, Richtung oder Bewegung „anders“ ist als bei anderen.
Typische Symptome bei aktivem TLR – worauf Du achten kannst
TLR vorwärts – häufige Symptome:
- gebeugte Haltung, zusammengesunken
- Schwierigkeiten, den Kopf aufrecht zu halten
- Neigung, den Kopf nach vorn oder zur Seite zu neigen
- schwache Nackenmuskulatur
- Probleme beim Heben der Arme oder Klettern
- schwacher Muskeltonus (Hypotonie)
- Gleichgewichtsstörungen – besonders beim Blick nach unten
- Reiseübelkeit (z. B. beim Autofahren)
- Tendenz zur Meidung körperlicher Aktivitäten
- Augenmuskeln arbeiten nicht synchron, Tendenz zum Schielen
- Schwierigkeiten beim Fokussieren auf unterschiedliche Entfernungen
- schwaches Zeitgefühl, Probleme mit Reihenfolgen
TLR rückwärts – häufige Symptome:
- übermäßige Streckspannung (Hypertonus)
- steife Bewegungen, v. a. im Oberkörper
- Zehenspitzen-Gang (häufig)
- Koordinationsprobleme, z. B. beim Treppensteigen
- Gleichgewichtsprobleme, besonders beim Blick nach oben
- visuelle Irritationen beim Wechsel zwischen Nähe und Ferne
- Probleme bei der Raumorientierung (oben/unten, rechts/links)
- Unsicherheit auf Brücken oder bei Höhen
- emotionale Anspannung, Reizempfindlichkeit
- Organisationsschwierigkeiten, geringe Frustrationstoleranz
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel: Kinder (oder später auch Erwachsene), die nicht auf eine „durchbrochene“ Brückenfläche treten können, weil sie den Untergrund durch die Lücken sehen: Das visuelle System meldet “Gefahr”, obwohl es objektiv keine gibt. Das limbische System reagiert mit Flucht- oder Starreimpuls.
Warum Krabbeln, Klettern und Gleichgewichtsspiele so wichtig sind
Bewegungsmuster wie Krabbeln und Kriechen helfen, den TLR zu integrieren, weil dabei vestibuläre, visuelle und propriozeptive Reize erstmals im Zusammenspiel verarbeitet werden. Diese Koordination ist die Grundlage für Körpergefühl, Gleichgewicht, Konzentration und visuelle Orientierung. Ohne diese Erfahrungen fehlen wichtige Reifungsschritte für schulisches Lernen und emotionale Regulation.
👉 Viele Kinder überspringen diese Bewegungsphasen heute – sei es durch zu frühes Sitzen, zu wenig Raum zum Krabbeln oder durch moderne Spielangebote, die wenig sensorisches Feedback liefern.
Zusammenhänge mit anderen Reflexen und neurologischen Reifungsprozessen
Wenn der TLR in der Kindheit nicht vollständig gehemmt wird, kann das auch andere Frühkindliche Reflexe in ihrer Integration blockieren. Gerade beim Reflexintegrationstraining nach dem RIT-Konzept ist es deshalb entscheidend, in der richtigen Reihenfolge vorzugehen – z. B. den Furcht-Lähmungsreflex zuerst zu bearbeiten. Ist dieser noch aktiv, kann der TLR meist nicht dauerhaft integriert werden.
Außerdem zeigt sich bei vielen Kindern mit ADS/ADHS ein aktiver TLR, besonders in der Vorwärtsrichtung. Das hat mit der unzureichenden Stimulation des retikulären Aktivierungssystems (RAS) zum präfrontalen Cortex zu tun – der Bereich im Gehirn, der für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Planung zuständig ist. Ein aktiver TLR kann diesen neurologischen Regelkreis massiv beeinflussen.
➡️ Lies dazu auch einen meiner Artikel zum Thema Schulreife:
- „Schulfähigkeit bei Kindern: Warum Reflexintegration eine wichtige Rolle spielt“
- „Schulstart: Die wichtigsten Grundlagen für einen gelungenen Einstieg Deines Kindes“
Reaktivierung im Erwachsenenalter – das passiert häufiger als man denkt
Auch bei Erwachsenen kann der TLR erneut aktiviert werden – etwa nach einem Unfall, einer Schleudertrauma-Verletzung oder Problemen im Bereich von Kopf, Nacken oder Rücken. Das kann sich durch plötzliche Gleichgewichtsprobleme, visuelle Irritationen oder chronische Nackenschmerzen äußern. In solchen Fällen lohnt sich ein reflexdiagnostischer Blick ebenfalls.
Was Du tun kannst, wenn Du Auffälligkeiten bemerkst
Ein fortbestehender TLR ist kein Fehler in der Entwicklung, sondern Ausdruck eines nicht abgeschlossenen Reifungsprozesses. Und das ist die gute Nachricht: Reflexe lassen sich auch nachträglich noch integrieren – durch gezielte Bewegungsübungen, neuronales Training und begleitende Förderung. In meiner Praxis nutze ich dazu das RIT-Konzept.
Fazit: Wenn ein Reflex bleibt, obwohl er gehen sollte
Der tonische Labyrinthreflex gehört zu den wichtigsten Frühkindlichen Reflexen im ersten Lebensjahr. Doch wenn er aktiv bleibt, beeinflusst er weit mehr als nur die Haltung: Gleichgewicht, Raumgefühl, Sehfunktion, Konzentration und emotionale Stabilität hängen direkt oder indirekt mit ihm zusammen.
Wenn Du bei Deinem Kind typische Anzeichen beobachtest – körperlich, schulisch oder emotional – könnte ein aktiver TLR die Ursache (oder Mitursache) sein. Und manchmal ist genau das der fehlende Puzzlestein, der alles zusammenbringt.
Ich biete ein kostenfreies telefonisches Erstgespräch (30 Minuten), in dem wir klären, ob ein Reflexintegrationstraining für Dein Kind sinnvoll ist.